GELLU NAUM GELESEN...
Im Laufe der nächsten Stunde entstehen dichte Geräusch-Collagen, in denen surrealistisch aus dem Zusammenhang gerissene akustische Zeichen neu zusammengesetzt werden. Eine neue Welt entsteht aus diesem Zusammenprall, wie sich dies die klassischen Surrealisten um André Breton vorgestellt hatten. Man könnte sich auch in einem therapeutischen Sensibilisierungsprojekt wähnen. Eine Stunde mit verbundenen Augen auf Texte, Musik und Geräusche zu lauschen, ist ja nicht unbedingt alltäglich. Wie ein akustisches Fanal ist plötzlich eine Telefon zu hören. Eines, wie sie vor dem digitalen Handywahn noch in Rumänien zu hören waren, tief, sonor, laut, eindringlich. Sofort stellt sich ein ganzer Schwall von vagen diffusen Erinnerungen und Stimmungen ein, wie sie nur dort erlebt werden konnten. Hier prallen in den aktustischen Collagen wirklich Welten aufeinander.
Auch die Lyrik Gellu Naums lebt von diesem Verfahren. Die im Raum umher gehenden SprecherInnen zitieren aus Naums „Der blinde Spiegel“: „Ein Faden Blut der mir aus der Tasche rinnt / ein Faden Wolle der mir aus den Augen rinnt / ein Faden Tabak der mir aus den Ohren rinnt / ein Faden Feuer der mir aus der Nase rinnt.“ Mit leiser, schmeichelnder, nachdenklicher, lauter, rigoroser Stimme werden die Nuancen der Bedeutung hervorgehoben und in neue Kontexte versetzt. Der blinde Spiegel ist so etwas wie ein Symbol surrealistischer Kunst geworden. Plötzlich wird mit zarter Hand etwas in meine Hand gegeben, ein Stein, hart, aber auch etwas schmierig. Ist er mit Schokolade eingerieben? (Es stellt sich später heraus, dass es ein Konfekt mit Walnüssen ist.)
Was das Erlebnis dieses Abends weiterhin so eindringlich macht, ist die Tatsache, dass das Publikum sich als solches gar nicht formieren kann, weil es sich nicht sieht und kaum hört. Jede/r ist auf sich allein in diese Welt der Geräusche und des gelegentlichen Angetastetwerdens gesetzt. Kein Hin und Her der Blicke zwischen den Teilnehmern und den Vortragenden. Für die Rezitatoren und Geräuschmacher ebenfalls eine einzigartige Position: HerrInnen über eine weitgehend der Performance ausgelieferte Anordnung von BesucherInnen.
Das Ende der Blindheit und die Wiedererlangung der Konvention wirkt fast erleichternd. Im Gespräch erfährt das Publikum von Ernest Wichner, dem scheidenden Leiter des Literhauses, dass Gellu Naum einst an gleicher Stelle zusammen mit Oskar Pastior aus seinen Gedichten las. Während des kommunistischen Regimes weitgehend mit Publikationsverbot belegt, wich Naum ins Übersetzen und das Kinderbuch aus. In dieser Domäne gelang ihm der Klassiker „Apolodor“, den Ada Milea vor Jahren unnachahmlich vertonte. Der rumänische Surrealist fand an diesem Abend eine angemessene Würdigung.
„bei gellu naum gelesen“. Adrian Ciglenean, Olga Berar, Steve Heather, Birgit Wieger. 18.11.2017, Literaturhaus Berlin in Zusammenarbeit mit dem Rumänischen Kulturinstitut Berlin.