Die Stadt
Das Kiew der 1920er Jahre in einem klassischen sowjetischen Stadt-Roman
Als der Verleger Sebastian Guggolz dieses Buch 2022 im Deutschlandfunk neu vorstellte, war die erste Auflage bereits ausverkauft - und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hatte gerade begonnen. So stark waren seinerzeit bereits die Spannungen und das Interesse an dem weitgehend unbekannt gebliebenen Land und seiner kulturellen Geschichte gediehen.
Als anregender Einstieg in eine wichtige Phase der Stadt eignet sich der Roman aus dem Jahre 1927 sehr gut, er schildert die Stadt Kiew (Kyiw) in einer historischen Epoche - der Zeit der NEP, der Neuen Ökonomischen Politik, die das kommunistische Regime 1924 installierte, um den Folgen der Revolution, Bürgerkriege, ökonomischen Schwäche zu begegnen. Mit der Zulassung von Unternehmertum, Pressefreiheit, Privatprofiten wurden einige der vorherigen, das Land bedrohenden Entwicklungen, wie etwa eine drohende Hungersnot, gestoppt - auf Kosten der Gebote der marxistischen Lehre und der Dominanz der Partei.
In diese widersprüchliche Situation führt der Roman des ukrainischen Autors Walerjan Pidmohylnyi seinen Helden Stepan, der vom heimischen Dorf den Dnipro herunter auf einem Dampfer in "die Stadt" übersiedelt. Dies könnte wie eine melancholische Gegenüberstellung von Stadt- und Landleben aussehen, aber nach den ersten sentimentalen Momenten und dem Treffen mit Nabijka, die ebenfalls aus seinem Dorf kommt, entwickelt sich ein Auf und Ab der Gefühle, das sehr gut dem Gewirre der Großstadt entspricht. Stepan war früher Dorfsekretär und hat die Absicht, ein Studium aufzunehmen, für das er ein Stipendium braucht. Und außerdem sieht er sich als angehender Schriftsteller. Stoff genug für ein abwechslungsreiches und tiefgründiges Verwirrspiel der Gefühle und Erlebnisse. Pidmohylnyi ändert die Tonlagen und Perspektiven seines Helden oft drastisch - dieser bleibt nicht der Gleiche, sondern wandelt sich nach den Opportunitäten und Anforderungen. Aus einem Überfliegerstudenten wird ein Schriftstller, aus dem Geliebten von Nabijka wird ein Frauenheld. "Denn er hatte durch die Gitterstäbe hindurch einen Blick auf die Freiheit erhascht und hegte nun insgeheim Feindschaft gegen jeden, der Zeuge seiner Vergangenheit war oder gewesen sein könnte."
Dies alles vor dem Hintergrund der Großstadt mit ihren unzähligen Angeboten und Möglichkeiten, die den jungen Mann in Zeiten des ungefähren und ungewissen Gangs der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung sichtlich überfordern. Nicht zuletzt die von der Partei unterstützte Betonung des Ukrainischen als kulturelle Besonderheit verweist auf historische Zusammenhänge, die der Anlage des Romans eingewoben sind, so dass ein literarisch entworfenes, aber dennoch anschauliches Bild Kiews in jener Epoche aufscheint.
Wieder einmal hat Sebastian Guggolz sein Gespür für Entdeckungen und aktuelle Literatur aus der Vergangenheit in diesem großen modernen Roman der Stadt bewiesen. Der Band wurde von einem studentischen Übersetzerteam übersetzt, hat ein informatives Nachwort der ÜbersetzerInnen und der Berliner Slavistin Susanne Frank und zudem hilfreiche Anmerkungen.
Walerjan Pidmohylnyi: Die Stadt (Misto; 1929).
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald u. Lina Zalitok.
Mit einem Nachwort von Susanne Frank, Lukas Joura, Alexander Kratochvil, Jakob Wunderwald u. Lina Zalitok
Guggolz Verlag Berlin 2022
415 Seiten
ISBN 978-3-945370-35-3
Im Inneren eines Paradieses
Georgien in Text und Bild
Im Jahr 2018 war Georgien das Gastland der Frankfurter Buchmesse. Seitdem gibt es nur wenige Publikumsverlage, die nicht Bücher aus Georgien verlegt haben. Das Nachbarland Rumäniens jenseits des Schwarzen Meeres setzte große Mittel ein, um seine Literatur und Landschaft im deutschsprachigen Raum über den Status des "Geheimtipps" hinaus bekannt zu machen. Diesen Zweck erfüllen auch die beiden unterschiedlichen Fotobände von Gerald Hänel und Wolfgang Korall sowie ein Reisebuch mit Impressionen des Journalisten und Verlegers Volker Dittrich.
Für Dittrich fing alles mit einer Reportage über georgische aufständische Soldaten auf der niederlän-dischen Insel Texel am Ende des Zweiten Weltkriegs an. Diese seltsame Geschichte brachte ihn am Ende der Sowjetunion in das Kaukasusland, wo einer der Teilnehmer 1992 noch lebte. Er lernte die Familie kennen, hielt Kontakt über Jahre hinweg, besuchte dann 2002 und ab 2007 wiederholt den Kaukasus wieder. Durch das Anwachsen der Zahl der Freunde und Bekannten erhält die/der LeserIn einerseits Details über das Alltagsleben einer Reihe von Menschen, zugleich gilt Dittrichs journalistische Neugier den politischen und historischen Hintergründen, die er sich immer wieder von seinen Freunden erklären lässt. Im Laufe der Lektüre entwickelt sich eine ganz eigene Verbundenheit mit dem Personal von Dittrichs Reisen und seinem Blick auf Georgien. Auch gehen Gespräche und Interviews mit Diplomaten, PolitikerInnen und Wissenschaftlern wie dem Berliner Zaal Andronikashvili, in die Darstellung ein. Dabei wechselt der Autor oft ohne Anführungszeichen in die Aussagen der Befragten, was die Unmittelbarkeit und Subjektivität des Gesagten erhöht. Im Gespräch mit der früheren Außenministerin Maia Pandschiditse erfährt man, dass diese die Einladung zur Frankfurter Buchmesse initiierte und auch gegen Unverständnis im Land durchsetzte.
So entsteht ein plastisches, facettenreiches Fresko des jungen Staates seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahre 1991. Nicht wenige der postsozialistischen Probleme (Korruption, Unterentwicklung, Instabilität, Demokratiedefizite, etc.) scheinen den rumänischen dabei nicht sehr fremd zu sein. Der Band enthält zudem eine Reihe von Farbfotografien des Autors, die einige der erlebten Szenen und Begegnungen zeigen.
Die bildliche Repräsentation des Landes setzen auf unterschiedliche Weise die beiden anderen Bände in Szene. Sie können dabei durchaus auch als fotografische Umsetzung der Beschreibung betrachtet werden. Der weitgereiste Fotograf Gerald Hänel hat in dem zweisprachigen Band (deutsch-englisch) die Motive der grandiosen Landschaften ebenso wie die Gegenwart der Städte nebeneinander versammelt. So wirkt manches wie eine aktuelle Entdeckung, anderes wie eine zeitlose Perspektive auf eine unveränderte archaische Landschaft mit uralten Kirchen und Türmen, in denen Gläubige ihre Riten absolvieren. Wiederum anderes eher journalistisch, ereignishaft, wenn in der Stadt junge Leute feiern oder Schachspieler und Kinder mit Disney-Figuren im Park abgelichtet werden. Diese anschauliche Mischung ergänzt ein Beitrag des georgischen Autors Archil Kikodze, der in einem Nachwort die unterschiedlichen Regionen des kleinen Landes mit ihren z.T. wohl sehr unterschiedlichen Bewohnern skizziert. So vermischen sich Bilder und Text zu einer lebhaften Vorstellung von Georgien heute und in der Vergangenheit.
Wolfgang Koralls großformatiges Album ist im Unterschied zu Hänels Band Ergebnis eines besonderen Projekts. Bereits in DDR-Zeiten reiste der damalige Jenenser Student auf abenteuerlichen Wegen durch das sowjetische Georgien, wo er viele Freundschaften knüpfte und über das er bereits 1991 einen Bildband ("Swanetien - Abschied von der Zeit") veröffentlichte. Seit 2008 bringen ihn mehrere Projekte zurück, 2011 geht es um die Nationalheilige Nino aus dem Mittelalter, auf deren Wegen und Spuren sich Korall durch Georgien bewegt. Der Titel des Bandes geht vor allem auf dieses spirituelle Unternehmen zurück, wobei sich wie Kaskaden die Fotos aus den Jahren davor dazugesellen. Natürlich wirken die grandiosen Landschaften des Kaukasus mit ihren schneebedeckten Gipfeln und den Wäldern und Wiesen in diesem Format besonders eindringlich, jedes Bild hat seine eigene Seite. Aber auch die Städte mit ihren Kontrasten sind bei Korall eingefangen. Das Besondere dieses Bandes machen aber auch die rahmenden Umstände seiner Entstehung aus, die der Fotograf knapp schildert. So auch den schweren Unfall, der fast tödlich endete und nur durch einen Flug mit dem Helikopter nach Deutschland die Gesundung möglich machte. Daher blieb das Projekt "Nino" ein Torso - aber die bereits gemachten, den Blick tief einsaugenden Bilder sind jetzt in dem Band zu sehen.
Volker Dittrich: Paradies am Rande Europas. Impressionen aus Georgien von 1992 bis 2017. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2018, 319 Seiten, ISBN 978-3-96311-008-5, zahlr. Farbfotos des Autors
Gerald Hänel: Auf dem Balkon Europas On the Balcony of Europe. Fotografien aus Georgien Photographs from Georgia. Mit einem Textbeitrag von Archil Kikodze With a text by Archil Kikodze. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2017, 159 Seiten, ISBN978-3-95462-888-9, zahlr. Farbfotos des Autors
Wolfgang Korall: Die Seele Georgiens. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 2018, 127 Seiten, ISBN 978-3-95462-305-1, zahlr. Farb- und 1 S/W-Foto des Autors
Essad Bey - Öl und Blut
Kolportagegeschichte des Orients
Die "Wiederentdeckung" durch die Biographie von Tom Reiss des seinerzeit ungemein erfolgreichen Autors mit dem exotischen Namen Essad Bey hat auf eine Gestalt aufmerksam gemacht, deren Lebenslauf ebenso Teil seiner Legende wurde, wie die Art, dieses Leben in Literatur zu verwandeln. Selbst ein "Sachbuch" über die Erdölförderung in Aserbaidschan musste da zur Folie für eigene Erlebnisschilderungen werden. Dies ist aber verständlich, denn Essad Bey wuchs in Baku auf, sein Vater war einer der im Buch beschriebenen reichen Erdölbarone. Nur trug die Familie den Namen Noussimbaum, war jüdischer Religion und nach dem frühen Tod der Mutter 1911 mussten Vater und Sohn nach Ausbruch der Russischen Revolution Baku verlassen, um verarmt in Berlin zu landen. Hier gelang es Lev Noussimbaum nach Besuch der Russischen Schule und Übertritt zum Islam mit entsprechendem Namenwechsel zu Essad Bey seine Herkunft und Kenntnisse gewinnbringend in zahlreichen Zeitungs-und Zeitschriftenartikeln (über 150 in der Literarischen Welt) umzusetzen - das Publikum lechzte förmlich nach kaum verifizierbaren Geschichten und Nachrichten aus dem "Orient". Essad Bey besaß das Talent einer orientalisch anmutenden Erzähllust und es gelang ihm Aufsehen zu erregen. Auch durch seinen Bucherstling "Öl und Blut im Orient" 1929, da er darin die Gefühle zahlreicher Bewohner der Region ziemlich strapaziert hatte, wie das informative Nachwort von Sebastian Januszewski hervorhebt.
"Öl und Blut im Orient" ist also kein "Sachbuch", wie es in den 1920er Jahren in Berlin von rumänischen Autoren wie Valeriu Marcu oder René Fülöp Miller (dessen besondere Bekanntschaft Essad Bey machte) 'erfunden' wurde, sondern vermischt eigene Erlebnisse des Autors und subjektive Darstellungen mit dem Transport von Informationen über eine Industrie, deren Realität kaum einem deutschen Leser bekannt war. Den zahlreichen russischen, aserbaidschanischen, iranischen, georgischen Flüchtlingen aber umso mehr: Entsprechendes Aufsehen erregte der Autor mit seiner fabulierenden Darstellung, in der unverblümt über Völker und Gebräuche des Kaukasus geurteilt wurde. Diese wird man heute kaum noch unreflektiert lesen, aber die Adelung des Textes durch die Aufnahme in die Andere Bibliothek ist durchaus gerechtfertigt, handelt es sich doch um ein wesentliches Zeugnis der Rezeption des Orients im Westen vor dem Zweiten Weltkrieg. Und es macht auf die Geschichten aufmerksam, hinter denen sich der Siegeszug einer heute in ihren desaströsen Folgen zu überblickenden Ölindustrie verbirgt. Dies war aber kaum das eigentliche Thema Essad Beys, sondern neben seinen eigenen Erlebnissen, die vor allem die russische Revolution und Kämpfe um Baku aufrufen, präsentiert das Buch auch die Szenerie der Länder um das Kaspische Meer und den Kaukasus. So kommen auch ein Kapitel "Deutschland in Aserbaidshan" vor oder Reisen nach Buchara und Samarkand oder die Flucht über Georgien in die Türkei. Bis heute noch in Aserbaidschan gegenwärtig - wie der Schriftsteller Marko Marin in einem dem Band zugefügten Text über einen Aufenthalt in Baku feststellt - ist Essad Bey durch seinen unter dem Pseudonym Kurban Said veröffentlichten Roman Ali und Nino.
Das wie üblich für die Andere Bibliothek aufwendig und äußerst lesbar produzierte Buch macht einen Autor zugänglich, dessen abenteuerliche Biographie wie ein eigenes Kunstwerk immer noch Faszination auslösen kann. Und dessen Thema gegenwärtig von großer Aktualität ist - wie etwa die gerade fertiggestellte Pipeline des Erdgasprojekts "Turk Stream" durch das Schwarze Meer zwischen Russland und der Türkei zeigt.
Essad Bey: Öl und Blut im Orient. Ein autobiographischer Bericht (1929). Mit einem Nachwort zum Leben von Essad Bey von Sebastian Januszewski und einem Essay von Marko Martin auf Spurensuche im heutigen Baku. Die Andere Bibliothek Berlin 2018 (Die Andere Bibliothek 402), 357 Seiten, ISBN 978-3-8477-0402-7
UKRAINE -
SZENARIEN DER (UN)SICHERHEIT
Ukraine-Frühstücksgespräch mit Dr. Andreas Umland
Seit der Besetzung der Krim durch Russland und dem Beginn des Krieges im Osten der Ukraine sind dort mehr als 10000 Menschen gestorben. Ein Krieg, der die europäische "Normalität" begleitet, aber nicht im Mittelpunkt der Debatten steht. Dennoch hängt viel von der
Dr. Andreas Umland (links), Prof. Dr. Mathias Jopp, Leiter des Instituts für Europäische Politik (Foto: www.kultro.de)
zukünftigen Entwicklung des nach der Auflösung der Sowjetunion 1992 neu geborenen Staates ab.
Beim "Ukraine-Frühstück" des Instituts für Europäische Politik (IEP) in Berlin sprach im März 2018 der Historiker und Politologe Dr. Andreas Umland über mögliche Sicherheitszenarien der nahen Zukunft, die aus den gegenwärtigen und vergangenen Umständen und Entwicklungen sich ableiten. Nach der Vorstellung durch den Leiter des IEP, Prof. Jopp und die Projektleiterin Ljudmyla Melnyk vom IEP kam Umland, der beim Institute for Euro-Atlantic Cooperation (IEAC) in Kiew arbeitet, zunächst auf die aktuelle Lage und ihre Entstehung zu sprechen. Der Politologe und Historiker warf zunächst trotz der kritischen Lage strukturell einen eher optimistischen Blick auf die innenpolitische Lage des großen Landes: Seit dem "Euro-Majdan" von 2013/14 seien die herrschenden korrupten Oligarchen in eine Sandwich-Situation geraten zwischen dem Druck der lokalen Zivilgesellschaft und dem der internationalen Geberorganisationen (EU, Weltbank, etc.), die nach dem Rückgang der Auslandsinvestitionen eine immer wichtigere Rolle spielten. Der Reformdruck werde daher unabhängig von den Wahlen im nächsten Jahr nicht nachlassen.
Von dieser Prämisse aus und der Berücksichtigung der geopolitischen Entwicklung formulierte Umland das seiner Ansicht nach wahrscheinlichste Szenario: Das sich zwischen den Machtblöcken herausbildende "Zwischeneuropa" mit seinen außer der Ukraine eher kleineren Staaten (Moldova, Georgien) werde weiterhin eine Grauzone bilden, die sich auch in eine potentielle Kriegszone wandeln könne. Grund sei, dass kein Akteur der russischen Macht widerstehe und Russland als Hegemon in dieser Region bereit ist, militärisch aktiv zu sein. Ein Diskutant benannte diese "Grauzone" als "frozen conflict", was Umland auf die Entwicklung des Krieges in der Ostukraine bezogen noch als positive Entwicklung betrachtete.
Als ein apokalyptisches Szenario erwähnte Umland das Misslingen des Baus der Brücke von Kertsch als direktem russischem Zugang zur Krim, der bei russischen Strategen die Idee aufkommen lassen könnte, ein Gebiet von etwa 500 km zwischen Mariupol und der Krim zu erobern. Andere Szenarien wie der "great bargain", also ein großer Ausgleich zwischen dem Westen und Russland, der etwa den Verzicht der Ukraine auf EU und NATO beinhalte, sieht Umland weniger erwartbar. Mittlerweile ist auch der Sonderstatus in den Beziehungen zu den USA kaum noch wahrscheinlich. Für am meisten unterschätzt hält Umland die Möglichkeit des EU-Beitritts nach den Lissaboner Verträgen und dem Assoziierungsabkommen.
Umland folgerte aus seiner Analyse, dass wohl nur "baby steps", kleine Schritte in dem Grauzonenszenario möglich sein werden, etwa eine Sicherheitsgarantie für Auslandsinvestitionen und Blauhelme im Osten der Ukraine. Die lebhafte Diskussion nach dem Vortrag sprach für dessen Thesen, wenn auch der Begriff des Szenarios methodisch hinterfragt wurde.
Ende Dezember 2017 leitete die EU-Kommission gegen Polen ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags ein: Weil "infolge der Justizreformen in Polen die Justiz des Landes nun unter der politischen Kontrolle der regierenden Mehrheit [steht]." Es bestehe "die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der in Artikel 2 EV verankerten gemeinsamen Werte"; auch sei die Durchsetzung europäischen Rechts und europäischer Investitionen gefährdet. Weiterhin erhebt die Kommission Klage gegen Polen vor dem Gerichtshof der EU.
Wie konnte es soweit kommen, was geht in Polen vor, seit die Partei "Prawo i Sprawiedliwość (PiS; Recht und Gerechtigkeit) im Oktober 2015 mit nur 18% der Stimmen aller Wahlberechtigten die Regierung stellt? In dem sehr empfehlenswerten Buch "Polska first" sind informative und differenzierte Beiträge zur Gegenwart und jüngsten Geschichte Polens versammelt, die ein plastisches Bild jener politischen und gesellschaftlichen Landschaft entwerfen, in der unter Führung des Parteivorsitzenden Jarosław Kaczyński das EU-Land sich so weit von den Grundwerten der EU entfernt hat.
POLSKA first...
In einem ausführlichen Gespräch hebt der in Warschau lehrende Politikwissenschaftler Klaus Bachmann hervor, dass die de facto-Entmachtung des Verfassungsgerichts ein weiterer Schritte auf dem Weg hin zu einer Präsidialverfassung sei: Die PiS habe konsequent nach dem Wahlsieg "einen großen Teil des Staatshaushaltes an potentielle PiS-Wähler verteil[t]" und gehofft, mit hohen Unterstützerzahlen die Verfassung zu verändern. Dies funktioniere aber bisher noch nicht ganz. Zugleich werden vor allem Richterstellen, Ämter in der Wahlkommission,Positionen in den Staatsmedien und Anzeigen in Medien unter Rücksicht auf Unterstützer der PiS vergeben. (Aus der polnischen Perspektive fällt ein besonderes Licht auch auf die Justiz"reformen", die die rumänische Regierung derzeit anstrebt, um die Staatsanwälte und Korruptionsverfolger dem Justizminister zu unterstellen - mit eindeutiger Absicht.)
Die Journalistin Kajo Puto benennt als grundlegende kulturelle Spaltung die zwischen dem traditionellen Polen und dem europäischen Polen, also zwischen dem romantischen Mythos von der ewigen Opfer- und zugleich Erlösernation und dem optimistischen Narrativ vom Erfolg der Bildung, der sozialen Bewegungen, der aufgeklärten Politik mit den europäischen Nachbarn. In diesen Gegensatz lässt sich auch die Frage der Abtreibung einbinden, wie Baumann klar macht: "Die üblichen Kriterien, aufgrund derer man das Wahlverhalten vorhersagen kann, spielen in Polen eigentlich keine Rolle. [...] Diese ganzen Fragen, die rechts und links unterscheiden, kann man in Polen ersetzen durch die Frage: Bist du für oder gegen die Abtreibung? Dann weiß man im Prinzip, für wen derjenige stimmt."
Was in den Jahren der ökonomischen "Schocktherapie" einer neoliberalen Marktwirtschaft mit dem Ziel, der EU und der NATO anzugehören, vielfach verdeckt blieb, kam nach Erreichung dieser Ziele als Kritik an der früheren Verklärung des Westens an die Oberfläche. Nationale Denkweisen, soziale Frustrationen, der Streit um Abtreibung und Frauenemanzipation, die geopolitische Nähe zu Putins Russland, der Absturz der Präsidentenmaschine mit dem Tod des Zwillingsbruders von Kaczyński, die lange vom früheren Premierminister Donald Tusk vertretene Europabegeisterung - indem die PiS bei all diesen Themen und Ereignissen an das traditionelle Polen appellierte und Stadt gegen Land ausspielte, ist es ihr gelungen, die Meinungs- und Parlamentsvorherrschaft zu erringen. Aus Europa-Orientierung wurde Kritik an "Nachahmungspolitik", aus dem Dialog mit den Nachbarn wurde Kritik an einer vermeintlichen "Unterwerfung".
Interessant sind auch die Motive, aus denen heraus Kaczyński heraus agiert. Früher selbst mit seinem Zwillingsbruder in der Gewerkschaft Solidarność aktiv, behauptet er heute, dass bei den Verhandlungen am Runden Tisch seinerzeit die Errungenschaften der Solidarność verspielt wurden, dass keine konsequente "Dekommunisierung" statt gefunden hätte. Und zudem sei der Flugzeugabsturz bei Smoleńsk ein Mordanschlag auf seinen Bruder gewesen. Der FAZ-Korrespondent Konrad Schuller hebt in einem Psychogramm Kaczyńskis dessen Vorliebe für Machiavelli und Carl Schmitt(!) hervor.
Welche widersprüchlichen Bewegungen in der von Kaczyński gesteuerten "De-Europäisierung" notwendig sind, macht Piotr Buras deutlich, indem er aufzeigt, wie die früheren außenpolitischen Optionen des Landes durch die PiS in die Sackgasse geführt wurden. Eindeutig ist auch das Bild der PiS-Anhängerschaft nicht. So hat die Zahlung von monatlich 500 Euro für junge Familien mit Kindern große Zustimmung gefunden.
Es hat bisher durchaus Widerstand gegen den antidemokratischen und anti-europäischen Kurs der PiS-Regierung gegeben, eine Verschärfung des Abtreibungsrechts wurde verhindert, der PiS-Präsident Duda legte ein Veto gegen Teile der Justiz"reformen" ein. Dennoch bleibt die politische Zukunft Polens ungewiss und mit ihr auch die der EU, der anzugehören einst das alle einigende große Ziel Polens war. Der Politologe Baumann meint: "Meine größte Befürchtung im Blick auf die weitere Entwicklung in Polen: nicht, dass jemand hier eine Diktatur einführen will - sondern dass sie eingeführt wird, ohne dass es jemand will."
POLSKA first. Über die polnische Krise. Hg. v. Andreas Rostek. edition.fotoTAPETA_Flugschrift. Berlin 2018, ISBN 978-3-940524-70-6, 240 Seiten
Junge Visionen für Europa
Europa? EU? Nachhaltigkeit? Identität? Das sollen Themen sein, die junge Leute aufrütteln, begeistern, nicht schlafen lassen? Kaum zu erwarten. Und doch ist es so: Seit einem Jahr treffen sich junge Wissenschaftler, NGO-Aktive, Interessierte aus EU-Institutionen, zivilgesellschaftlich Engagierte u.a., um über diese Begriffe und ihre Inhalte, über die Zukunft und die Realität Europas nachzudenken. Warum? Weil sie eine Vision formulieren wollen für ihre Generation, in der Europa im Zentrum steht. Und sie machen das nicht aus dem Blauen heraus, sondern investieren eine Menge Energie, Know How, Nachdenken und Diskussionen in die Erarbeitung einer tragfähigen Zukunftsperspektive für Europa.
Es sind junge Leute wie Constanze Aka (IEP), Manuel Gath vom Think Tank Das Progressive Centrum oder Tatjana Kuhn vom Centre International de Formation Européenne (CIFE), Timo Stockhorst von den Jungen Europäischen Föderalisten Saar, die Studentin Franziska Petri, die nach Studium und diversen Berufserfahrungen wissen, wie Diskurse, Strategien, Inhalte, Politik bewegt und jongliert werden können, damit am Ende etwas herauskommt, sich etwas bewegt hat. Und der Hauptantrieb ist natürlich, dass sie für Europa brennen, dass die jetzige Situation sie umtreibt.
Entstanden ist das Ganze im idyllischen Otzenhausen im nördlichen Saarland – an der dortigen altehrwürdigen Europäischen Akademie (EAO), die bereits seit 1954 die Europa-Kompetenz des damals noch autonomen Saargebietes in den folgenden Jahrzehnten wesentlich mitprägte. Zwischen Frankreich, Luxemburg und Deutschland gelegen befand sich hier einst die politische Mitte des westlichen Teils des Erdteils, in dem die Idee seiner Vereinigung geboren wurde. Studiendirektor Sebastian Zeitzmann von der EAO weist darauf hin, dass es ein "Kick-off-Workshop" im April 2017 war, der engagierte junge Europainteressierte aus unterschiedlichen Initiativen und Berufsfeldern zusammenführte, um ihre Vision zu entwickeln. Dieser Beginn selbst wurde angestoßen von dem Berliner Institut für europäische Politik (IEP), das durch seinen Leiter Prof. Jopp das Projekt #ALTEU initiierte, um zahlreiche Initiativen mit ihren Überlegungen zur Zukunft Europas zu fokussieren.
Auf der Abschlusskonferenz in Berlin im Deutschen Architekturzentrum (DAZ) wurden im Dezember 2017 die Formulierungen der Vision in ihren Teilaspekten diskutiert, u.a. mit der früheren saarländischen Europaabgeordneten Doris Pack (CDU), Susanne Wixforth vom DGB, dem Bundestagsabgeordneten Marcus Faber (FDP), Prof. Gabriele Abels (Univ. Tübingen) und Prof. Björn Hacker (Berlin).
Ein „Vision Slam“ fasste einige Hauptaspekte zusammen: Unter „Lebenssicherheit“ wird eine völlig neue Sicht auf die menschlichen Aktivitäten verstanden, die sehr viel mehr sich als Teil von Natur und Umwelt verstehen und unter Infragestellung von Lebensstandard entscheidend auf Lebensqualität in Arbeitswelt, sozialer Umwelt und Politik setzen müssten. Unter „Identität“ werden Forderungen nach der Umsetzung von Anstrengungen zu einer europäischen Öffentlichkeit, nach Partizipation, Solidarität formuliert. Hier ist auch der Ort, über die kulturellen Differenzierungen in Europa nachzudenken und wie sie jedes Konstrukt einer „Union“ bereichern, wenn kulturelle Kommunikation auf EU-Ebene gefördert wird. Unter „Nachhaltigkeit“ wurde vielleicht am weitestgehenden der Übergang von einer Wegwerfgesellschaft zu einer Kreislaufökonomie gefordert. „Außenpolitik“ fordert die Sichtbarkeit der EU nach innen und außen durch Installierung eines Außenministeriums, die Formierung von „Grünhelmen“ als Möglichkeit humanitär oder militärisch einzugreifen.
In den Diskussionen zeigte sich ebenso das Potenzial dieser Vision zur Wiederbelebung der europäischen Idee als politische Handlungskraft wie natürlich auch Defizite in der Bezugnahme auf reale Probleme, deren Lösung erst die Vision ermöglichen würden, zu Tage traten.
Es lohnt sich jedenfalls, sich ernsthaft mit diesen neuen Visionen für Europa auseinanderzusetzen.
2019
Rumänien im Sommer (III)
Medien und Behörden
Craiova
Foto: www.kultro.de
In diesem Sommer kannte die rumänische Presse kein "Sommerloch" – dafür sorgte nicht nur die Politik, sondern auch aufsehenerregende Vorfälle beschäftigten die Öffentlichkeit. Zunächst war es ein Fall von Adoption, der die Gemüter landesweit in Aufwallung brachte. Im Fall von Sorina , einem 8-jährigen Mädchen, begann alles am 21. Juni, als Bilder einer das schreiende und weinende Kind am Arm zerrenden Frau auftauchten, während im Hintergrund die "mascați", die üblicherweise maskiert auftretenden Polizisten der Brigada de intervenție dabei zusahen. Das Kind wurde von seinen Pflegeeltern in Baia de Aramă (Kreis Mehedinți) in Oltenien abgeholt, um zu seinen Adoptiveltern in Craiova gebracht zu werden. Die Frau auf den Bildern mit dem schreienden und sich wehrenden Kind war eine Staatsanwältin. Freunde der Pflegeeltern hatten die Szene mit dem Smartphone gefilmt und über soziale Netze verbreitet, so dass sie in kürzester Zeit auch die Redaktionen der Presse und vor allem der privaten Sender wie antena 3, B1tv, realitatea erreichten. Von dort wurden wie üblich umgehend "meinungsstarke", d.h. in diesem Fall Vorurteile bekräftigende und Emotionen aufrührende Berichte gesendet, die den Adoptiveltern alles vorwarfen, was die Bilder scheinbar belegten: Herzlosigkeit, Unmenschlichkeit, Verachtung der Pflegeeltern, bei denen das Kind 7 Jahre gelebt hatte. Hinzu kam, dass die Adoptiveltern in den USA wohnen und somit sich mehr oder minder unterschwellig noch ein Affekt gegen die ausgewanderten Rumänen einschlich, während die Pflegeeltern als de la noi (von uns) positioniert wurden. Einen Tag später demonstrierten bereits etwa 100 Menschen vor dem Haus der Pflegeeltern "für Sorina" und später vor dem Berufungsgericht in Craiova gegen ihre Adoption. Sie trugen Schilder mit den Losungen "Zerstört nicht das Glück eines Kindes", "Vereint euch für Sorina", "Lasst Sorina entscheiden" ( das rumänische Gesetz sieht eine Mitwirkung des Kindes erst ab 10 Jahren vor). PolitikerInnen wurden zum Eingreifen aufgerufen, Premierministerin Dăncilă – selbst Adoptivmutter eines Jungen, wie sie in einem Interview mit antena 3 im Januar des Jahres offengelegt hatte – sprach sich für eine Berücksichtigung des Kindeswohls und die Bestrafung der falsch handelnden Institutionen aus. Auch die Justiz wurde aktiv, Generalstaatsanwalt Bogdan Licu verlangte, die Ausreise der minderjährigen Adoptierten zu unterbinden, da sie keinen Pass habe und verhinderte so für zwei Wochen die Ausreise, bis das Gericht in Craiova entschied, dass die Adoption rechtens sei. So konnte die Familie Mitte Juli in die USA ausreisen.
Die Vorgeschichte dieser Adoption ist kompliziert und zog sich über 2 Jahre hin. Die Zeitung Adevărul listete auf, welche juristischen und Verwaltungsschritte seit Sorinas Ankunft 2012 mit anderthalb Jahren in der Pflegefamilie unternommen worden waren. Nachdem sie für adoptibilă (adoptionsfähig) erklärt worden war, hatten über 100 Familien Sorina abgelehnt (wohl vor allem, weil sie ursprünglich aus einer Roma-Familie kommt). Dadurch wurde sie als "schwer vermittelbar" auch für im Ausland lebende rumänische Familien adoptierbar. (Das Gesetz sieht für internationale Adoptionen nur Rumänen mit doppelter Staatsbürgerschaft vor!) Anfang 2018 beantragte die Familie aus den USA die Adoption, während die Pflegefamilie in Baia de Aramă, die noch andere Pflegekinder aufzieht, dies nicht tat und zu einem bestimmten Zeitpunkt ausdrücklich auf die Adoption verzichtete. Sie hatte bei der DIICOT (Direcția de Investigare a Infracțiunilor de Criminalitate Organizată și Terorism - Sonderstaatsanwaltschaft für die Untersuchung von Verbrechen der organisierten Kriminalität und Terrorismus) geklagt, dass die Adoptivfamilie das Kind lediglich zur Organentnahme haben wolle. Im April 2019 entschied das Berufungsgericht in Craiova endgültig, dass die Adoption durch das rumänische Ehepaar in den USA rechtens sei. Die Behörden zeigten eher weniger Entschlusskraft, bis im Juni die Staatsanwältin das Kind zu einer Untersuchung abholte.
Im Nachhinein gesehen warf der Fall ein Schlaglicht auf die nicht wenigen Kinder, die nach der Geburt in das System staatlicher Obhut geraten. Die katholische Theologin Gabriela Blebea Nicolae verwies in der Zeitschrift Dilema veche auf die noch viel schlechtere Lage der Kinder, die nicht wie Sorina adoptiert werden und mit der Volljährigkeit kaum Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben außerhalb des staatlichen Betreuungssystems haben.
Advărul berichtete im September noch einmal über Sorina, als der Vater aus den USA verlauten ließ, dass es dem Mädchen gut gehe, es sich mit seinen Geschwistern gut vertrage, Klavier lerne und zum Ballett gehe.
*
Begann sich Mitte Juli die Öffentlichkeit nach der Abreise des adoptierten Kindes in die USA von dem Fall allmählich abzuwenden, so sollte das Verschwinden zweier Jugendlicher ebenfalls in Oltenien für eine bis heute anhaltende Aufregung in der Öffentlichkeit sorgen und viele an den Brand in dem Club Colectiv erinnern, in dessen Folge eine ganze politische Protestbewegung gegen die Korruption entstanden war.
Am 25. Juli gab die Familie von Alexandra Măceșanu über soziale Netzwerke ihre Suche nach der Jugendlichen bekannt, die am Tag zuvor morgens von ihrer Heimatgemeinde Dobrosloveni die wenigen Kilometer in die Kreisstadt Caracal per Anhalter gefahren war. Seither hatte sie niemand mehr gesehen oder kontaktieren können. Auch die Lokalpolizei suchte bereits nach der Jugendlichen und teilte dies in den sozialen Netzwerken mit. Was aber wenige Stunden später bekannt wurde, sollte den Fall zu einem weiteren Beweis für die fatalen Folgen rumänischen Behördenversagens machen. Denn während die lokale Polizei erst allmählich tätig wurde, erhielt die Mutter der Jugendlichen einen Anruf, in dem eine männliche Stimme mitteilte, dass Alexandra mit einem Freund nach England gefahren sei, um Geld zu verdienen und es ihr gut gehe. Dass dies nicht zutraf, wurde im Nachhinein klar, weil es am gleichen 25. Juli von 11:05 Uhr an drei Anrufe von Alexandra bei der Polizei unter der Notfallnummer 112 gab, in denen sie sagte, dass sie von einem Mann entführt und vergewaltigt wurde und in einem Haus gefangen sei. Der veröffentlichte Mitschnitt der Telefonate macht deutlich, dass die Jugendliche verzweifelt und voller Angst auf die Gefahr aufmerksam machen wollte, in der sie schwebt, während die jeweiligen Polizisten ihr nicht zu glauben schienen bzw. nicht in der Lage waren, von Alexandra die nötigen Informationen zu erhalten, um sie zu finden oder die Anrufe an die Stelle weiterzuleiten, die mit dem Verschwinden eines Mädchens aus Dobrosloveni sich befassten. Auch dem STS (Serviciul de Telecomunicaţii Speciale) gelang es nicht, anhand der Anrufdaten genau den Aufenthaltsort zu bestimmen. Die letzten Worte des Mädchens sind "vine, vine, criminalul" (er kommt, er kommt, der Verbrecher). Diese sprach sie, als sie von der Polizei auf dem Telefon zurückgerufen wurde. Mittlerweile wird davon ausgegangen, dass der Täter wenig später die Jugendliche tötete und in einer Metalltonne verbrannte.
Der Polizei gelang es erst gegen 2:30 Uhr am nächsten Morgen, den Aufenthaltsort von Alexandra herauszufinden, allerdings wartete sie bis 6:00 Uhr, um das Gelände des Gheorghe Dincă zu betreten, da dann erst ein Staatsanwalt die Erlaubnis erteilte. Dincă wurde auf dem Gelände angetroffen und stundenlang vernommen (offensichtlich unter Gebrauch von körperlicher Gewalt), wobei er zunächst die Tat leugnete.
Mittlerweile hatte ein Beamter der DIICOT im Zusammenhang mit dem Geschehen auch den Fall der bereits im April aus dem nahe bei Caracal liegenden Dorf Radomir, Gemeinde Dioști im Nachbarkreis Dolj verschwundenen 18-jährigen Mihaela Luiza Melencu aufgebracht und Dincă hierzu befragt. Die Schülerin war ebenfalls auf dem Weg nach Caracal verschwunden, wo sie Geld an einem Bankautomaten abheben wollte, das ihre in England arbeitende Mutter geschickt hatte. Melencu lebte bei ihren Großeltern und ging in Craiova auf die Schule. Nachdem sie nicht von ihrer Fahrt per Anhalter zurückkehrte, wandten sich die Großeltern an die Polizei, die diesen Fall sehr zögerlich behandelte. Auch in diesem Fall gab es einen Anruf, bei dem ein Mann erklärte, dass die junge Frau mit einem Freund in die Schweiz gegangen sei und es ihr gut gehe.
Als am 26. Juni diese Nachrichten bekannt werden, geht eine Welle der Empörung nicht nur durch die lokale Bevölkerung des Kreises Olt. Über das Internet und das Fernsehen verbreiten sich die aktuellen Informationen, es kommt nicht nur in Caracal zu spontanen Demonstrationen mit Hunderten von Beteiligten. Alexandra victimă voastră eroina noastră (A. euer Opfer, unsere Heldin), Alexandra a sunat, nimeni nu a acționat (A. hat angerufen, niemand hat gehandelt), Vrem dreptate (Wir wollen Gerechtigkeit), Iartă-ne Alexandra (Verzeihe uns, A.), Corupția ucide (Korruption tötet), Rușine (Schande) lässt sich auf den selbst gebastelten Plakaten und Bannern lesen. Vor dem Anwesen des vermutlichen Täters versammelt sich eine Menge, die Polizei und Justiz ausbuht und Lärm macht, als der Verdächtige abtransportiert wird.
In Fahrt gekommen, setzt der Skandal nicht nur ungehemmte Verdächtigungen, Spekulationen, Vorwürfe frei, sondern veranlasst die Entlassung sowohl des höchsten Polizisten des Landes wie auch einiger weiterer unmittelbar Beteiligter wie auch aus der STS. Ohne Unterlass beschäftigen die Hintergründe und Versäumnisse der Institutionen sowohl Presse als auch das Internet. Befördert wird dies durch die weitreichende Untersuchung des Geländes, auf dem der Verhaftete die beiden Frauen nach eigener Aussage ermordet hat und möglicherweise noch weitere grausige Funde gemacht werden. In jahrelanger Tätigkeit hatte der 66-jährige Dincă ein unübersichtliches Labyrinth von Aufbauten, Kellern, Zimmern mit einem überwucherten Hof an einer Ausfallstraße von Caracal geschaffen. Dincă lebte von Klempnerarbeiten, illegalen Taxifahrten, Kleinhandel. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigen ihn an jenem Morgen, als er die Jugendliche Alexandra gekidnappt hatte. Auf dem Gelände gefundene Knochen erwiesen sich als die Alexandras, andere außerhalb in einem Wald gefundene sind die einer 15-20-Jährigen, vermutlich die Luizas.
Die Ermittlungen finden statt in einer Atmosphäre des Misstrauens, da viele jetzt von einer bisher tabuisierten Existenz von kriminellen Clans mit sehr guten Verbindungen zu Polizei und Politik in den vernachlässigten Städten Südrumäniens sprechen. Caracal sei eines der Zentren des Menschenhandels in Südrumänien, in dem junge Frauen zur Prostitution in Europa gezwungen werden.
2019
Rumänien im Sommer (II)
China ist da
Foto: www.kultro.de
In der Stadt Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand hat die Neuzeit der Transition durchaus Einzug gehalten. Davon künden äußerlich eine riesige Carrefour-Mall, zwei große renovierte Hotelhochhäuser, eine Reihe von Einkaufsmöglichkeiten, ein zu aufdringlicher Autoverkehr mit fast nur neuen ausländischen Wagen, erneuerte Trottoirs, renovierte oder neu erbaute Villen in blühenden Vorgärten, ein blinkendes neues Fußballstadion, zahlreiche neu gebaute große Kirchen und manch anderes mehr.
Jenseits dieser ins Auge fallenden Neuerungen sind allerdings die Überbleibsel der Vergangenheit ebenso nicht zu übersehen. Im Stadtteil Dărmănești steht noch, was früher Orion hieß, eine nicht übermäßig große Betonburg als Einkaufscenter mit unterschiedlichen Geschäften und Dienstleistungen. Es führt uns die Suche nach einer Lego-Transformers-Figur in das Gebäude, das auch einen chinesischen Laden beherbergen soll. Es zeigt sich, dass das komplette Obergeschoss Verkaufslokal chinesischer Waren ist – günstige (oder billige) Jacken, Kleider, Spielzeug, Haushaltswaren, die zumeist aus Plastikkunststoff hergestellt sind. Geleitet wird der Laden offensichtlich von einem Asiaten und auch eine Verkäuferin scheint asiatischer Herkunft. Bei der Präsenz chinesischer Billigwaren weltweit ist daran sicher nichts Ungewöhnliches festzustellen. Überraschend wird es aber, wenn man dann an der gleichen Straße etwas stadteinwärts ein noch größeres Geschäft in einem neuen Betongebäude neben dem großen Kaufland-Einkaufszentrum findet. In dem ungelüfteten riesigen Raum riecht es penetrant nach Plastik, das Angebot ist von gehobenerer Qualität undumfasst viel Kinderspielzeug. Und wirklich überrascht ist man dann beim Besuch eines weiteren Betonkomplexes gegenüber des alten Historischen Museums im Zentrum der Stadt, der ebenfalls bessere Tage gesehen zu haben scheint. Im obersten Stock neben einem Club findet sich ein chinesisches Geschäft, vor allem mit Sommerkleidung und Sportgeräten. Aber hatten wir nicht noch an einer zentralen Straße neben dem zentralen Einkaufszentrum am Hotel Plaza ein chinesisches Geschäft gesehen? Auch in diesem am sichtbarsten plazierten Magazin chinezesc finden sich all die Dinge, von denen man bisher nur vermutete, dass sie in China hergestellt wurden. Jetzt macht ein Blick im Geschäft klar, dass dies auch der Fall ist. Und die Krönung stellt die Verwunderung über einen kleinen Laden im Orion dar, dessen gehobene Ausstattung mit Kleidung und Spielzeug ihn erst auf den zweiten Blick als chinesische Verkaufsstelle entpuppt. Ganz anders ist hier die Präsentation der Einzelstücke, qualitativ heben sich die Kleidungsstücke von den bisher gesehenen chinesischen Waren ab und fallen gegenüber denen in nichtchinesischen Läden kaum auf. Die gesuchte Transformers-Figur findet sich leider nirgends.
Alle diese chinesischen Läden haben wegen ihrer unterschiedlichen Präsentation und Niveaus ihre Kundschaft, günstige Produkte finden für eine bestimmte Käuferschicht immer Kaufwillige. Dass diese Nachfrage in der rumänischen Provinz fast ausschließlich aus chinesischer Herkunft gedeckt wird, macht deutlich, wie sehr das Modell des fernöstlichen kommunistischen Staates mit der ultrakapitalistischen Wirtschaft bereits die ausufernden Basare der Nachwendezeit Osteuropas (von denen es auch einen am Rande der Stadt gibt) verlassen und sich nun auf die nicht nur unteren Preissegmente fast aller Waren des täglichen Bedarfs ausgebreitet hat. Piatra-Neamț hat jedenfalls mindestens 5 große solcher chinesischer Verkaufsstellen vorzuweisen – und man braucht nicht viel Phantasie für die Annahme, dass es in zahlreichen rumänischen Städten auf dem Land nicht sehr viel anders aussieht. Und auf dem Markt der Stadt mit seinen zahlreichen Ständen und Geschäften erwecken jetzt auch billige Plastikwaren unsere besondere Aufmerksamkeit.
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Neversea, Untold, Afterhills, Electric Castle - Markennamen im trendigen Englisch? In gewisser Weise schon. Aber nicht Gegenstände als Waren sind hier gemeint, sondern Dienstleistungen oder genauer künstlerische Darbietungen – es handelt sich um die Namen von Megamusikfestivals in Rumänien. Spätestens fünfzig Jahre nach Woodstock, der Mutter aller Rockfestivals, hat der internationale Markt für solche Veranstaltungen auch Rumänien entdeckt. Landesweit werben die Medien für UNTOLD und Electric Castle in Cluj (Klausenburg), die große Besucherzahlen in die Universitätsstadt im Norden Siebenbürgens anlocken. Electric Castle findet beim Banffy Schloss in Bonțida statt und hat seinen Namen wegen der eher an elektronischer Musik orientierten Ausrichtung. Hauptact waren Mitte Juli neben dem DJ Nils Frahm und rumänischen Musikern wie Subcarpați, der Heldin älterer Generationen Loredana, den Berlinern Zmei3 auf der zentralen Bühne Florence and the Machine und Thirty seconds to Mars, aber auch die Rockband Limp Bizkit aus den USA. Ihr Konzert war mit 50000 Fans ausverkauft, an den 5 Tagen waren etwa 200000 auf das Gelände mit 10 Bühnen einige Kilometer von Cluj entfernt gekommen, was natürlich ein riesiges Transportchaos verursachte. Ansonsten versucht dieses wie die anderen Festivals als "grün" rüberzukommen - von Lidl (!!) gesponsert wurde eine Eco-Bühne und ein Mülltrennungsverfahren. Der Discounter festigt damit in Rumänien sein Image als Mittelklassesupermarkt. Ansonsten bot das Festival zahlreiche Möglichkeiten zu kreativen Aktivitäten.
Noch mehr Besucher zieht UNTOLD in Cluj an: Die Festivalorganisatoren nannten dieses Jahr 372000 Besucher an 4 Tagen zu dem im Zentrum der Stadt und vor allem im Fußballstadion auf 10 Abspielstätten (darunter ein Tramwaggon!) angesiedelten Musikereignis. Headliner waren in diesem fünften Jahr der Veranstaltung der Sänger Robbie Williams und die Star-DJs Paul Kalkbrenner, David Guetta, Armin van Buuren, aber auch Alt-Rapper Busta Rhymes oder der rumänische Star Smiley. Eine spektakuläre Lightshow zum Finale ließ das Stadion aufblitzen und erglühen.
UNTOLD setzt bei seinem Vermarktungskonzept vor allem auch auf die Wirkung in die Stadt hinein, indem es aus dem Erlös sowohl den benutzten Park neu bepflanzt als auch Kinderspitäler und andere soziale Einrichtungen mit neuer Ausstattung versieht. 20% der BesucherInnen kommen aus Cluj, 20% aus dem Ausland, der Rest aus Rumänien, teilen die Veranstalter mit. Und lassen in der Stadt eine durchaus meßbare ökonomische Spur hinter sich. Im Ansturm der Massen von Zuschauern können luxuriöse Studentenwohnungen schon einmal für über 1000 Euro vermietet werden. Allerdings sieht sich das Festival wegen seiner Größe und der mitten in der Stadt in einem Park aufgebauten Bühnen auch mit kritischen Kommentaren konfrontiert.
Am Meer in Constanța findet Neversea statt, nach eigener Einschätzung das "größte Strandfestival Europas". Hier dominieren am Stadtstrand unterhalb der Uferklippe Constanțas elektrische DJ-Musik bis in den späten Vormittag, sportliche Aktivitäten, Wasser, Sonne. Einige Bühnen sind auf dem Wasser installiert. Die Reihe der DJs ist endlos für die 4 Tage Unterhaltung, deren musikalische Darbietungen vor allem nachts durch permanente Light-und Lasershows sich ins Gedächtnis einschreiben. Unter den Acts sind Sean Paul, die junge rumänische Band The Motans, das Hip-Hop Urgestein Paraziții.
Noch nicht beendet ist das Afterhills Festival in Iași, das vor allem am Wochenende stattfindet. Es startete am 23. August auf 5 Bühnen und wird am 1. September enden. Am ersten Wochenende zog es 67000 Besucher an, als der Topact auf der Bühne stand – die englische Pop-Sängerin Rita Ora. In Dobrovăț bei Iași auf einem Wiesengelände zwischen den Hügeln finden unter der Woche vor allem familienfreundlichere Formen der Unterhaltung statt, Kino, Comedy, Graffiti-Painting, Klettern, Tanzen und einige DJ-Acts. Das Festival im dritten Jahr ist das größte der Moldau. Am letzten Wochenende sind u.a. Morcheeba und Les Elephants Bizarres oder auch Subcarpați die Highlights.
Aber nicht nur diese Festivals fanden ihr zahlreiches Publikum: In Bukarest traten im neuen Nationalstadium die Alt-Rocker von Metallica und vor dem Parlamentspalast Bon Jovi vor jeweils mehreren Zehntausenden Fans auf – Open-Air allerorten.
2019
Rumänien im Sommer (I)
Impressionen und Splitter
Fotos: www.kultro.de
Der globale Klimawandel hat (natürlich) auch Rumänien erfasst: Dauerregen, Überschwemmungen, Unwetter, Orkane, Temperaturrekorde und abrupte -stürze prägen das Wetter seit Wochen. Das frühere Kontinentalklima mit ziemlich stabilem heißem Sommerwetter von Mai bis Oktober – höchstens unterbrochen von kurzen Unwettern – gehört der Vergangenheit an. Unberechenbar sind die Vorhersagen, dauernder Wechsel wo früher Stabilität den Sommer zu einer unendlich wirkenden Jahreszeit machte. Immerhin lässt der Regen das Land grün erscheinen. Eine ganz neue Erfahrung: Die stundenlange Eisenbahnfahrt von Bukarest ins nur 350 Kilometer entfernte Piatra-Neamț am östlichen Karpatenrand führt nicht wie üblich durch eine verbrannte braun-schwarze Landschaft, sondern durch grüne Hügel und Ebenen.
Diese Veränderung ist natürlich auch im Land nicht unbemerkt geblieben. Ein Taxifahrer in Bukarest stellt fest: "Die Jahreszeiten sind zerstört!" Ein Fahrer in Piatra-Neamț glaubt, dass dies durch "die Raketen" verursacht worden sei. Auf die Entgegnung, dass vor allem die Industrie und der Autoverkehr die Atmosphäre zerstören, meint er sarkastisch: "Industrie haben wir nicht, da sind wir aus dem Schneider."
Das immer wieder wechselnde Wetter und der immer wieder auftretende Starkregen begleiten den Aufenthalt über Wochen hinweg.
Dass das Autofahren mit diesem Klimawandel direkt zu tun hat, setzt sich allmählich als Bewusstsein durch. Ganz erstaunt ist man, wenn man vom Taxifahrer in Bukarest hört: "Es gibt zu viele Autos in der Stadt!" Das ist nicht unbedingt auf die Umweltzerstörung gemünzt, aber dennoch ein vorher nie gehörtes Statement. In der Tageszeitung Adevărul weist ein Kolumnist auf die Situation in Bukarest hin, dessen Luft nach einer von der Stadt veröffentlichten Studie seit Jahren hoch verschmutzt und krebserregend sei. Als Konsequenz müssten eigentlich alle Autos mit Diesel Euro 3 und 4 verboten werden, wenn man die Hauptursache der Verschmutzung beseitigen möchte, wie es die EU verlangt.
Keine leichte Aufgabe, denn Autofahren (vor allem mit großen Protzautos) gilt schließlich in Rumänien weitgehend als sakrosankt. Entsprechend haben FahrradfahrerInnen und FußgängerInnen einen schweren Stand, wenn etwa die Trottoirs quer bis zur Hauswand zugeparkt werden. In den Dörfern wird das Tempolimit nur selten eingehalten, ausgebaute Straßen, die für FußgängerInnen nur schwer zu überqueren sind, teilen die Ortschaften in zwei Hälften. Das Rasen mit den PS-starken ausländischen Wagen ist ein Volkssport vor allem jüngerer Männer, der immer wieder hohe "Opfer" produziert. Deren genaue Zahlen blieben bisher weitgehend im Dunkeln, jetzt schreibt die Zeitung Evenimentul zilei, dass Rumänien nach einer EU-Studie die höchsten Todeszahlen im Straßenverkehr habe: 96 Tote auf 1 Million Einwohner, während es in Großbritannien "nur" 28 sind. (Deutschland liegt auf dem 21. Platz (bzw. 8. Platz mit den wenigsten "Opfern")). Die Zeitung nennt als Ursache die schlechten Straßen (und wirbt so für den Bau von Autobahnen) und die Überschreitung der angemessenenen Geschwindigkeit. Letztere ist immer wieder zu beobachten, gepaart mit unvorstellbaren Fahrmanövern. So bremst in einer Ortschaft in einer scharfen Rechtskurve der Fahrer eines regulär verkehrenden Minibusses nicht hinter einem Pferdewagen, sondern überholt als gerade ein großer Lkw entgegenkommt – Verantwortungsbewusstsein à la roumaine. Ein anderer Minibusfahrer fängt irgendwann an, auf dem Handy zu tippen – nicht um zu telefonieren, sondern um Textnachrichten zu schreiben. Zu diesen selbst erlebten Fällen addieren die Medien die drastischen Nachrichten von Unfällen mit vielen Toten.
Lieblingsthema der Lokalpolitiker in der Moldau und Siebenbürgen hingegen ist der Bau von Autobahnen. Während nach einigen schlechten Erfahrungen mit ausländischen Firmen viele Rumänen glauben, es gäbe überhaupt keine Autobahnen im Land und jede Verzögerung oder Schwierigkeit beim Bau in den Zeitungen als Bestätigung hierfür gilt, sind dennoch bereits nicht wenige Kilometer in die Landschaft gefräst worden. Allerdings nicht in der Moldau, deren Wirtschaft von der Politik in Bukarest dringend eine Verbindung über die Karpaten nach Târgu Mureș in Siebenbürgen verlangt. Das bisherige Scheitern dieser Forderung ist für die Moldauer ein weiterer Baustein für das Bild der Vernachlässigung der Moldau durch die Regierung in Bukarest, für die Rückständigkeit der Region, Anlass für die Verachtung der Politiker, etc. Bei dieser ökonomisch an steigender Produktivität und wachsendem Gewinn orientierten Forderung wird die daraus folgende Zerstörung der bisher weitgehend intakten Landschaft der Karpaten meist mit keinem Wort erwähnt.
Welche Folgen der motorisierte Individualverkehr haben kann, zeigt die Straße zwischen Târgu Neamț und Iași. Die Metropole der Moldau zieht unweigerlich große Verkehrsströme an und wächst entlang der E 58 nach Westen. Hier haben sich im Laufe der letzten 15 Jahre nicht nur Metro oder Carrefour auf der flachen Wiese des breiten Tals Richtung Târgu Neamț angesiedelt, es sind zahlreiche Autohäuser, Verkaufslager, Supermärkte, hinzugekommen. Und entsprechend steigt der Verkehr auf der teilweise zweispurigen Straße an. Welche Folgen Unachtsamkeit, Verantwortungslosigkeit, Hektik und Stress der FahrerInnen dabei entfalten können, zeigen die bereits verwitternden Kreuze an beiden Fahrbahnrändern – es vergeht kaum ein Monat, an dem auf dieser Strecke nicht ein Mensch stirbt. Oft sind es Fußgänger, die in dem Iașier Ortsteil Valea Lupului die Straße überqueren wollen. Auf den 50 Kilometern von Târgu Frumos bis Iași ließen sich vor einigen Jahren allein 16 Kreuze aum rechten Straßenrand zählen, die Zahl der "Opfer" dieser "Todesstrecke" liegt natürlich weit höher.
Vom wachsenden Autoverkehr nicht verschont bleiben auch die touristisch interessanten Ziele. Das so idyllisch am Rande der Berge in der Bukowina gelegene Gura Humorului verzeichnet im Zentrum während der Arbeitswoche einen solchen Verkehr von Besuchern in Bussen, von Einheimischen, Wirtschaftsfahrzeugen, etc., dass von einem "Luftkurort" kaum noch die Rede sein dürfte. Vor allem ist es der Schwerlastverkehr von Lkws und Transportern, der den Aufenthalt im Zentrum eher als lautes Spektakel in Abgaswolken denn als Erholung erleben lässt. Einer der Gründe dieser Ballung liegt in der Tatsache, dass es keine Straßenalternative aus dem Tal von Câmpulung Moldovenesc nach Osten Richtung Iași gibt.
So bleibt der Autoverkehr eines der Probleme in einer Region, deren landschaftliche Schönheit nur bewahrt werden kann, wenn nicht versucht wird, diese der bequemen Erreichbarkeit und Zugänglichkeit zu opfern – während zugleich die wachsenden Chancen des EU-Staates auf ökonomischem Gebiet den Ausbau des Straßennetzes unausweichlich zu machen scheinen.
In diesem Zusammenhang wurde bisher das Eisenbahnnetz kaum genannt. So überrascht es, in der Tageszeitung Adevărul eine Meldung zu finden, die den Niedergang der CFR (Câile Ferate Române - Rumänische Eisenbahnen) konstatiert. Anlass ist eine neue Studie des Transportministeriums, nach der in den vergangenen 20 Jahren die Infrastruktur der staatlichen Bahngesellschaft kontinuierlich vernachlässigt worden sei und diese daher erheblich an Kunden verloren habe. Die geringe Geschwindigkeit aufgrund der schlechten Schienenverhältnisse und die ebenfalls aus der schlechten Infrastruktur resultierende Unpünktlichkeit seien die Hauptgründe für das geringe Nutzeraufkommen. Die Misere gehe aber letztlich vor allem auf die chronische Unterfinanzierung seit 1990 zurück.
In der Tat stellt die rumänische Bahn ein spezielles Vergnügen dar: War vor 20 Jahren die Fahrt von Bukarest bis Iași (400 km) eine 6-stündiges Dahinkriechen, so bestand doch die Hoffnung, dass in der Zukunft diese Fahrzeit auf vielleicht 5 oder gar 4 1/2 Stunden reduziert werden könnte. Mittlerweile dauert diese Fahrt aber fast 7 Stunden! Und die jetzt häufigen und gut gefüllten Flüge brauchen dafür nur 1 Stunde. Wie sehr das Zugfahren ins Hintertreffen geraten ist, zeigt die Tatsache, dass die CFR es für nötig hält, Plakate in den Zügen anzubringen, auf denen klargestellt wird, dass man für die Zugfahrt eine Fahrkarte braucht und dass bestimmte Regeln zu befolgen sind. Dennoch gelingt es immer wieder, mit dem Schaffner "Deals" zu beiderseitigem Vorteil (und Nachteil der CFR) zu vereinbaren. Im Zug von Câmpulung Moldovenesc nach Gura Humorului fängt eine Reisende eine lautstarke Diskussion mit dem Schaffner an, weshalb so wenige Wagen für die zahlreichen Reisenden bereit gestellt werde, während auf anderen Strecken die Züge nicht so überfüllt seien. Sie fordert bessere Versorgung durch die Bahn, worauf der Schaffner nur wenig zu antworten weiss. Ein deutliches Zeichen für die beginnende Veränderung des Denkens könnte das Wiederaufkommen des Fahrrads im Nahbereich darstellen. Überall sind jüngere Menschen mit neuen Fahrrädern unterwegs. Selbst die zunächst eher wie ein Feigenblatt für eine verfehlte Verkehrspolitik wirkenden grünen Radstreifen in Bukarest machen mittlerweile Sinn, da sie von zahlreichen bicicletiști benutzt - und vielfach auch von den AutofahrerInnen respektiert werden.